Zeit seines künstlerischen Daseins glich die Karriere des gebürtigen Hamburgers WITT einer Fahrt in der Achterbahn. Nach dem Höhepunkt des NDW und seinem Hit "Der goldene Reiter" war die Nachfrage nach musikalischem Material von JOACHIM WITT gering. Entgegen allen Unkenrufen schaffte WITT eine kreative Häutung und legte mit "Bayreuth" ein Brachialwerk erster Güte vor. Vom Kritiker gefeiert, von Fans geliebt, wurde die Veröffentlichung ein Riesenerfolg und das Duett "Die Flut" mit Peter Heppner schoss WITT zurück in den Mainstream. "Bayreuth" spaltet noch heute: Zuviel Pathos und Pompom oder einfach Kitsch? Immerhin mauserte sich "Bayreuth" zu einer äusserst komplexen Werkreihe von insgesamt drei Alben.
Doch das Gesetz der Achterbahn zeigt nach schwindelnden Höhen den Fall. WITTs letzte Platten hatten, euphemistisch formuliert, mässig Erfolg. 2007 zog sich der Sänger deshalb aus der Musikszene zurück. JOACHIM WITT, mittlerweile nach London umgesiedelt, betrieb in der folgenden Zeit allerdings weiter kreative Innenschau aus Selbstreflexion und Umfeldbetrachtung. Zum Schluss waren die musikalischen Ergebnisse so gehaltvoll, dass er sich zum Verlassen seines kreativen Kokons entschloss. Der mittlerweile 63-jährige Vollblutmusiker kehrt ins Musikgeschäft zurück.
"Dom" nennt WITT sein neues Album und wahrlich bombastisch mutet das neue Werk des ehemaligen "Goldenen Reiters" an. Eine "Kathedrale der Popmusik" wolle er bauen; grosse Worte eines Selbstdarstellers? Beim durchhören von "Dom" wird klar, dass Meister WITT mit seinem Vergleich eher noch untertreibt. "Dom" ist per se Popmusik, dabei aber ungemein komplex, atmosphärisch und zum sterben schön. Typisch WITT bekommt der Hörer in den zehn Albentracks die komplette Breitseite menschlicher Existenz einmassiert. Dass dies immer nahe am mentalen Abgrund stattfindet, ist mitnichten der medialen Gier nach sentimentalem Kitsch geschuldet: "Dom" präsentiert einen Seelenstrip, dessen Intimität den Hören zum Voyeur werden lässt.
"Dom" schlicht als Album zu titulieren, käme der Bezeichnung eines Hummers als Sättigungsbeilage gleich. Das Album gleicht wahrlich einer gotischen Kathedrale samt liebevoll komplexer Ausstattung. Mit all seinen erhabenen Melodien, opulenten Arrangements und filigranen Zeilen strahlt "Dom" eine altersweise Geschlossenheit aus und es scheint, als habe JOACHIM WITT, ohne es wissen zu können, sein ganzes Leben lang darauf hingearbeitet. Es ist ein Album über die ewige Abfolge von Untergang und Neuanfang; ein Kreislauf, den WITT im Laufe der Jahre nicht nur einmal in allen Facetten erlebt hat. "Dom" zeigt die emotionale Kompetenz eines Musikers, der heute dem Zynismus seiner NDW-Jahre und den kompromisslosen Srukturen der "Werkreihe Bayreuth" mit romantischer Festlichkeit begegnen kann. Er hat sich einen prachtvollen "Dom" gebaut, eine feierlich geschmückte Kathedrale der Popmusik. Am 28. September 2012 werden die Pforten für jedermann geöffnet.
Beim Beschreiben von "DOM" scheinen sich neumodisch saloppe Definitionen von selbst zu verbieten. Der fast ehrwürdige Grundton des Albums zwingt zur Nutzung alten Wortguts - und der Rezensionist beugt sich gern.
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